RITA ROHLFING – Vom Schein und Raum der Farbe, Dr. Carl Dörken Galerie, Herdecke
Dr. Reinhold Happel
Der us-amerikanische Schriftsteller Alexander Theroux behauptet: „Rot ist die kühnste und frechste Farbe. … (Sie) „besitzt von allen Farben die größte Farbintensität und die stärkste Anziehungskraft.“ (Theroux EVA Hamburg 1998, S.7f). Der Biologe und Chemiker Norbert Welsch lässt uns in seinem umfangreichen Buch über Farbe wissen, dass der Farbe ROT neben „positive(n symbolischen) Eigenschaften, wie Kraft, Mut, Liebe, Fruchtbarkeit und Opferbereitschaft … auch negative, wie Hass, Aggression, Sünde, Krieg und Blutvergießen zugeordnet“ werden (Welsch/Liebmann 2012, S.58). Beide Autoren messen mit Rückgriff auf die Philosophie, die Physik, Chemie, Psychologie bis hin zur Kunst- und Kulturgeschichte der Farbe Rot eine große Wichtigkeit zu. Tatsächlich spielt Rot in praktisch allen menschlichen Kulturen und Gesellschaften seit der Steinzeit bis heute eine bedeutende Rolle.
Ob Rita Rohlfing aus derartigen Gründen der Farbe Rot in ihrem bisherigen Werk eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, ist schwer zu beurteilen. Sie selbst würde das, wenn man sie fragt, unter Verweis auf andere Farben in ihrem künstlerischen Schaffen wohl zurückweisen/relativieren. Ich vermute aber, dass die Faszination gerade dieser nach Theroux’s Worten ja „kühnsten und frechsten Farbe“ auch Rohlfing provoziert hat, sich gerade dem Rot und seinen spezifischen Wirkungsqualitäten ausführlicher zu widmen. Und sie tut dies im Rahmen ihres künstlerischen „Forschungsprogramms“ nach den von ihr selbst gestellten Fragestellungen zur geheimnisvollen Wirkung der Farbe Rot.
Darin folgt sie einer guten Tradition der Künstler*innen der Moderne im 20. Jh., nämlich: die klassischen Gattungsgrenzen und Konventionen der Bildenden Kunst hinter sich zu lassen. Der Hintergrund: im experimentellen „learning by doing“ uneingeschränkt, frei von jeglichen fremden oder auch selbstgesetzten Normen, alle technischen wie künstlerischen Möglichkeiten nutzen zu können. Wofür? Einerseits für die experimentelle Erprobung und Reflexion der Farbe und damit auch der Kunst selbst, also der Legitimierung ihres künstlerischen Schaffens. Andererseits für die daraus abgeleiteten und keineswegs immer schon im voraus klar definierbaren bzw. definierten künstlerischen Zielsetzungen.
Karl Ruhrberg, Kurator der legendären Ausstellung „Westkunst“ (Köln 1981) hat diese Emanzipationsbestrebung der Kunst einmal metaphorisch als „Ausstieg aus dem Bild“ (Katalog Westkunst, 1981, S. 234) bezeichnet. Ein Ausstieg u.a. in den Raum hinein, so wie Rita Rohlfing es in ihrem Werk vollzogen hat. Neben der Pop- und OP-Art oder der Installationskunst gehören – bezogen auf die immer wieder neue Befragung der Farbe – dazu künstlerische Strömungen wie die konkrete Kunst, die us-amerikanische Farbfeldmalerei, die Künstlergruppe Zero – etwa ein Otto Piene mit seinen Gemälden, Spiegel- und Lichtobjekten – oder die radikale Malerei seit den 1980er Jahren. Das sind Strömungen, die auch in der Sammlung der Werner Richard-Dr. Carl Dörken-Stiftung vertreten sind. Insofern schreiben wir mit dieser Ausstellung das Sammlungs-Motto „Farbe als Farbe“ konsequent fort. Denn mit Rita Rohlfings eigens für die Dörken-Galerie konzipierten Installation „PASSAGE-ROT“ können wir einmal wortwörtlich erfahren, wie das Bild bzw. das Kunstwerk sich ganz konkret in den Raum hinein erweitert bzw. entgrenzt. Und zwar in einer Weise, bei der Farbe das „grundlegende Element“ darstellt.
Nun hat Rot, wie jede andere Farbe, nicht einfach per se eine unwandelbare, immer gleiche Ausstrahlung und Wirkung. Das ist, wie wir wissen, vielmehr abhängig von der Art und dem Kontext ihrer Präsentation: etwa unter welchen Lichtverhältnissen, in welchem räumlichen oder objekthaften Zusammenhang, in welcher Dimension, in welcher Art des Farbmaterials, des Farbauftrags usw. sie auftritt.
Alle diese Rahmenbedingungen haben einen Einfluss auf die konkrete Präsenz und damit auf die Wirkung und Bedeutsamkeit von Farbe sowie der ihr zugeordneten Objekte, Motive oder Raumsituationen. Und schließlich müssen wir noch uns selbst als Rezipienten in Rechnung stellen. Denn mit unserer jeweiligen individuellen Wahrnehmungs-Erfahrung, unseren Wertvorstellungen und unserem spezifischen Kunstverständnis, unserer momentanen Stimmungslage, und unserer Lust überhaupt schauen zu wollen, erleben und interpretieren wir das jeweilige Werk und seine Präsentation partiell unterschiedlich.
Genau das dürfte sich bereits ereignet haben, wenn wir durch Rita Rohlfings Installation „Passage ROT“ gegangen sind. Was haben wir nun hier vor uns? Eine knallrote Wand, ihr gegenüber eine Wand, die wie der Boden dazwischen mit silberner Folie überzogen ist. Die Folie ist übrigens ein Produkt der Fa. Dörken: Dachdämmungsfolie. Dass Rohlfing sie in einem künstlerischen Zusammenhang nutzt, macht nebenbei deutlich, dass Materialien offensichtlich mehr Qualitäten haben können, als ihre Entwickler oder Produzenten ursprünglich gedacht haben: hier etwa – dank der Glanz- /Reflexionseigenschaften – eine ästhetische Funktion.
Die Folie ist materialbedingt nicht „spiegelglatt“ aufgezogen, sondern sie bleibt uneben. Daher bricht sich das einfallende Licht so, dass kein exaktes „Spiegelbild“ entsteht. Vielmehr schimmert das intensive raumgreifende Rot der einen Wand als diffuse changierende Farberscheinung aus dem Silberton des folienüberzogenen Bodens und der anderen Wand hervor.
Und diese Farb- Erscheinungen verändern sich außerdem permanent, je nachdem, wie oder wo wir uns in der Passage bewegen und positionieren. Zusätzlich tragen wir selbst als merkwürdige farbige Schemen mit unseren Körpern und unserer Kleidung zu diesem permanent sich wandelnden Farbenspiel bei, nicht zuletzt in Augen anderer Beobachter.
Insofern ist die Raum-Installation ein interaktives, ein den Betrachter aktivierendes und sogar integrierendes Werk. Denn wir werden zumindest für den Zeitraum unseres Aufenthaltes in der Passage gewissermaßen ein Bestandteil des Kunstwerkes. Rita Rohlfing bietet uns ein visuelles Erlebnis an: mit einem Farb-Erfahrungsraum aus bemalten bzw. folienüberzogenen Wänden, der in unserer Wahrnehmung sich durch unsere Aktivität als sich ständig wandelndes Farbraum-Werk erweist.
Innerhalb des künstlerischen Schaffens von Rita Rohlfing gehört die „PASSAGE ROT“ zu den, so möchte ich es bezeichnen, „offenen“ Farb-Raum-Installationen. Und zwar in dem Sinne, dass wir nicht distanziert „vor dem Werk stehen“, sondern dass wir uns lustvoll-spielerisch dem Werk ganzheitlich aussetzen, es aber gleichwohl dabei kritisch reflektierend wahrnehmen können. Das wäre ein Wahrnehmen, bei dem dann je nach Bereitschaft, nach Stimmung und Persönlichkeit möglicherweise auch jene Empfindungen und Assoziationen von Wärme, Kraft, Aggressivität oder geheimnisvoller Virtualität auftauchen, die die eingangs zitierten Autoren Alexander Theroux oder Norbert Welsch als psychologische bzw. soziale Wirkungspotentiale erwähnt haben.
Das Gegenmodell zu diesen offenen Installationen sind Rohlfings „geschlossene“ Farb-Raum-Arbeiten. Dort ist uns als BetrachterInnen, etwa in den Wand-Objekten, den „IMMATERIAL SPACES“ oder der Bodenskulptur „ANSCHEINEND“, der unmittelbare Zugang zur Farbe entzogen. Wir erahnen zwar hinter den geschliffenen Plexiglasscheiben eine Konstruktion, zwischen der die Farbe hervorscheint. Aber die Farbquelle, die Farbentstehung entzieht sich unserer Wahrnehmung. Der Effekt: die Farbe scheint als diffuser „Farbnebel“ vollkommen unabhängig von jeder Materialität in dem abgegrenzten Raumkubus zu schweben und sich je nach Standpunkt auch noch zu verändern.
Tatsächlich geht es Rohlfing nach meiner Überzeugung nicht so sehr um die Materialität von Farbe, sondern um die immaterielle Seite von Farbe, um Farb-Erscheinung und um Farb-Wahrnehmung. Von dieser Warte aus betrachtet, erscheint Rohlfings künstlerischer Werdegang erstaunlich konsequent. Selbst dann oder gerade dann, wenn man annehmen darf, dass ihr das am Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn womöglich in dieser Klarheit noch nicht bewußt gewesen ist. Schon früh hat sich Rohlfing nämlich bei ihrer Suche nach neuen ästhetischen Farb-Erfahrungen wegbewegt von der klassischen Tafel-Malerei, hin zur Skulptur und zum Raum. Charakteristisch dafür ist die Art, wie sie etwa das Prinzip der „Shaped Canvas“ eines Frank Stella oder eines Rupprecht Geiger für sich adaptiert: also das Verlassen des traditionellen rechteckigen Tafelbildes zugunsten vielfältiger, eigenmächtiger Flächenformen.
Rita Rohflings unregelmäßige Aluminium-Tafeln (UNTITLED SPACES, 2019) sind Teil ihrer grenzüberschreitenden Experimente. Hier führt sie uns das verblüffende Zusammenfallen von Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit vor. Einerseits sind diese Tafeln in ihren Umrissen klare, scharfkantige, also scheinbar „eindeutige“ Flächenformen. Als zweidimensionale Formen suggerieren sie aber durch einfache geometrische Flächen-Teilung – kleine stumpf glänzende Aluminiumfläche stehen neben großer, gräulich gefasster Fläche – Dreidimensionalität.
Die Ambivalenz einer Dreidimensionalität suggerierenden zweidimensionalen Tafel, die wir aus der klassischen gegenständlichen Malerei kennen, was man als indirekten Traditionsverweis lesen könnte, diese Ambivalenz erfährt nun in der diffusen Unbestimmbarkeit der von Rohlfing erzeugten Grautonigkeit eine zusätzliche Steigerung oder Ergänzung. Diese Grautonigkeit zeigt sich je nach Lichtverhältnissen und Standpunkt immer wieder anders. D.h., sie lässt sich einfach nicht genau bestimmen. Das Werk, das zunächst in seiner klaren scharfkantigen Form des Bildträgers „Eindeutigkeit“ signalisiert, zeigt sich bei genauerer Betrachtung als „un-eindeutig“: Klarheit und Präzision erweisen sich als „relatives“ Phänome. Und genau darin liegt die eigentliche ästhetische Spannung dieser Bild-Tafeln.
Diesen Aspekt der Ambivalenz können wir auch auf die z.T. großformatigen Fotografien an der Stirnwand beziehen. Was zeigen Sie? Eine durchgehend schwarze, stark zerkratzte Fläche, die von Lichtpunkten erhellt ist. Angesichts der Oberflächenstruktur spekulieren wir vielleicht auf eine stark benutzte Fläche, etwa die Bodenfläche eines Industrie-Gebäudes: ähnlich wie etwa hier der Boden der Dörken-Galerie. Damit liegen wir nicht falsch. Es handelt sich um den Boden der Kölner Messehallen. Allerdings haben wir mit einer solchen Entschlüsselung des Realitäts-Bezugs das eigentlich Faszinierende der Werke gar nicht berührt.
Was Rohlfing uns vorstellt, folgt u.a. der kreativen, dadaistischen Tradition etwa eines Kurt Schwitters. Die besagt verkürzt gesagt, dass man Orten, Dingen oder Materialien, die nach alltäglichen Maßstäben eher als nichtswürdig/nicht beachtenswert gelten ästhetische Dimensionen abgewinnen kann, und ihnen damit eine neue Wertigkeit verschafft.
Darauf verweist indirekt der Titel der Fotoarbeiten: „SCHEINBAR“. Der ist so mehrdeutig wie spekulativen Interpretationen der BetrachterInnen (angescheint werden, einen Anschein haben). Obwohl jener angeleuchtete, und „anscheinend“ unbedeutende Messehallen-Boden mit seinen Realitätsspuren ganz klassisch abbildhaft fotografiert ist, gewinnt er durch den künstlerischen Verfremdungseffekt – nämlich 1.) durch den gewählten Ausschnitt, der den räumlichen Zusammenhang auflöst in ein zweidimensionales formales Gefüge von Linienstrukturen und Hell-Dunkelwerten, 2.) durch den Glanz der Fotografie, und 3.) durch die monumentale Vergrößerung und die Aufrichtung in der Art eines Tafelbildes, seine neue Bestimmung als Objekt der ästhetischen Anschauung. Indem dabei die ursprüngliche Materialität des Bodens in die ungreifbare Farbigkeit des fotografischen Bildes überführt wird, tritt zugleich die Gegenständlichkeit des Motivs zugunsten der „auratischen“ ästhetischen Farberscheinung zurück.
Farben gehören, wie allgemein bekannt, zu den grundlegenden Phänomenen der menschlichen visuellen Welterfahrung. In unserer heutigen „Medienwelt“ hat nun die zunehmende Flut visueller Farb-Eindrücke uns Zeitgenossen eine geradezu kurzatmig oberflächliche Wahrnehmungs-Haltung aufgezwungen. D.h., unsere Kompetenz, Realitätsphänomene formal und inhaltlich zu reflektieren, nimmt unter diesen Voraussetzungen fast zwangsläufig immer mehr ab. Und das, obwohl wir doch andererseits für uns in Anspruch nehmen, Frau bzw. Herr unserer eigenen Lebensrealität zu sein. Eine Lebensrealität, die in ihrer Komplexität eher ein Mehr als ein Weniger an kritischer Reflexion einfordert, um die wachsenden Herausforderungen zu bewältigen. Hier nun bietet uns u.a. die Bildende Kunst eine Möglichkeit, das eigene Sehen und Denken immer wieder neu zu aktivieren, zu sensibilisieren und zu reflektieren. Etwa auf eine hintergründig-unterhaltsame wie erlebnisorientierte Art, wie sie uns Rita Rohlfing mit ihrer „PASSAGE ROT“, den „FARB-SPACES“ oder „UNTITLED SPACES“ anbietet.
Reinhold Happel, 9/2020
Zur Eröffnung der Ausstellung „Rita Rohlfing – Passage Rot“, Dr. Carl Dörken-Galerie der Werner Richard-Dr. Carl Dörken-Stiftung, Herdecke, 27.9.2020