RITA ROHLFING – Drahtseilakt
Gerhard Kolberg, Zur Rauminstallation Drahtseilakt, 2000, Gothaer Kunstforum, Köln
In konzertierter Aktion nehmen formklare Flächen und monochrom-rote Farbigkeit in Rita Rohlfings dreidimensional wirksamen Acryl- und Ölgemälden auf form- und farbdynamischer Weise gestalterischen Bezug zum Raum und zum Betrachter. Die vielfach irregulär geformten Leinwände vermitteln, als bemalte Farbfächen entweder an der Wand hängend oder als Formkörper im Raum stehend, den Eindruck imaginärer Raumtiefen und plastischer Volumen. Dabei nimmt der Blick- und Standpunkt des Betrachters erheblichen Einfluss auf die sinnliche Wahrnehmung dieser formalen und das Auge täuschenden Interaktionen von Form, Farbe und Raum. Die Grenzen zwischen Malerei und Skulptur sind in Rita Rohlfings Kunst fliessend, wie es auch ihre vor wenigen Jahren geschaffenen Plastiken oder Stelen aus diffus reflektierendem Edelstahl mit rot lackierten Innen- oder konkav gebogenen Aussenflächen bezeugen. Diese farbig bemalten Skulpturen operieren in sich mit Raum, sie fordern das Umschreiten heraus und lassen uns die Wandlungsvielfalt und gestalterischen Wechselwirkungen von Form, Farbe und Raum entdecken und empfinden.
Im Wesentlichen gründen die Arbeiten von Rita Rohlfing auf der formminimalistischen aber aspektreichen Interaktion zwischen geraden, gefalteten, gebogenen oder unregelmäßig geschnittenen Formflächen – an der Wand oder frei im Raum sich entfaltend – und vorgefundenen Räumen und Orten. Erst die Wahrnehmung des Betrachters lässt Rohlfings Werke zu raumgeladenen Phänomenen werden – dreidimensional plastisch im Raum oder als Einbildungen an der Wand. Dass erst die Imagination des Einzelnen und die aktive Betrachtung den im Kunstwerk verborgenen ästhetischen Aspektreichtum lebendig werden lassen, beweist auch Rita Rohlfings, für das Kölner Gothaer Forum konzipierte und ausgeführte Rauminstallation. Dieses begehbare Kunstwerk ist von ernster materieller Reduziertheit und räumlicher Transparenz – und ohne emotional wirksame Farbe. Es ist Ausdruck eines ganz auf das räumlich-plastische Gestalten mit puren Materialien konzentrierte Denken. 18 drei Meter hohe und 1,50 Meter breite Aluminiumpaneele, 14 drei Meter hohe und 10 cm starke Doppel-T-Stahlträger, sowie unendliche Meter an Stahldraht sind seine plastischen Bestandteile. Die wichtigste gestalterische Komponente ist jedoch der spezifisch gestaltete, hohe und überaus lang gestreckte Raum des Gothaer Kunstforums. Dessen Mitte kennzeichnet eine die oberen Etagen verbindende Brücke, zu der seitlich eine Treppe hinaufführt. Entlang dieser und der gegenüber liegenden Wand errichtete die Künstlerin mit den erwähnten Aluminiumpaneelen zwei 13,50 Meter lange und 3 Meter hohe Wände. Diese greifen die Streckung des Hallenraums auf. Bewusst weisen die stumpfen und dunklen Seiten des Aluminiums nach Innen. Somit entsteht, frei von raumerweiternden hellen Reflexionen, visuell eine tunnelartige Raumverengung und eine blickweisende Ausrichtung. An den beiden Enden dieses seitlich begrenzten Raumes – dem Ein- oder Ausgang – stehen in diagonaler Stellung und gleichen Abständen sich jeweils sieben Doppel-T-Stahlträger gegenüber. Die hintere Reihe endet, wie die Paneelwände, unmittelbar unter der Brücke.
Zwischen den gegenüberstehenden Stahlpylonen spannte die Künstlerin ein ungeordnet anmutendes Gespinst leicht durchhängender Stahlseile, die horizontal, in Achter-Schleifen oder diagonal verlaufen und an den offenen Stirnseiten den schweren Stahlträgern im Steinboden Halt verschaffen. Auf diese Weise schuf Rita Rohlfing innerhalb der Aluminiumwände acht circa 60 cm enge Gassen, jeweils begrenzt von den transparenten, linearen Drahtseilverspannungen, die gleichsam wie „Zeichnungen im Raum“ (Rita Rohlfing) wirken.
Schaut man von der Brücke auf die, einer achtspurigen Laufbahn ähnlichen Konstruktion herab, so hat man einen Überblick aus der Distanz. Man ist Zuschauer. Jedoch unten, beim Durchschreiten der schmalen, drahtgesäumten Korridore, ist man – trotz der Transparenz der überkreuzenden und sich wie Schraffuren verdichtenden Drähte – dem Gefühl räumlicher Beengung ausgesetzt, aus dem man nicht ausbrechen kann. Es gibt nur ein Vorwärts oder Zurück. Die Emotionen werden angesprochen. Je nachdem in welcher der acht Schneisen der Betrachter sich gerade befindet, sieht er zu den Seiten eine Summierung der gestaffelten Drahtgeflechte vor dem dunklen Hintergrund der Aluminiumwände und beim Durchschreiten unzählige Variationen von Verdichtungen, Schraffuren und – abhängig vom Tempo – kinetischen Effekten der plastischer Linien.
Die Drähte halten den Teilnehmenden in der gewählten Bahn, verhindern die physische Kontaktaufnahme zu entfernten Gefährten, jedoch die Transparenz der Begrenzungen lässt sie uns an ihrer ähnlichen räumlichen und emotionalen Situationen teil haben. Die Sinne des Durchschreitenden, sowohl seine optische Wahrnehmung als auch ihre Beeinflussung durch sein psychisches Gesamtempfinden, werden durch diese linearen Lenkungen oder Verunklärungen des Blicks aktiviert und zu subjektiven Assoziationen gereizt.
Mit der Trübung des Blicks durch schemenhaft etwas Verdeckendes und zugleich Interesse für das dahinter Liegende Erweckendes, beschäftigte sich Rita Rohlfing auch in folgender Rauminstallation, die sie 1999 im Kunstmuseum in Mülheim an der Ruhr für den Ort realisierte. Sie nannte dieses begehbare und lichtdurchflutete Kunstwerk aus rot, rosa, orange und pinkfarben lackierten Aluminiumplatten, vor denen gestaffelte Plexiplatten mit Sandstrahlfolie den Durchblick ins Diffuse brachen, assoziationsreich „Lufttöne.“ Aus einer bestimmten Position heraus sah der frei sich zwischen hängenden Paneelen bewegende und die Mitteilnehmer beobachtende Betrachter die leuchtenden Farbpaneele getrübt, jedoch wurde gleichzeitig sein Interesse und seine Mobilität aktiviert, um das halb Verborgene klarer zu sehen. Dieses Bestreben, sich von der Trübung (und Beengung) des Blicks zu befreien, hat auch der in die Kölner Rauminstallation Eingetretene. Und so, wie die schwebenden Paneele in Mülheim farbige „Lufttöne“ suggerierten, so stellt sich die Künstlerin auch für ihre mit Stahldrähten geschaffene „Zeichnung im Raum“ passende – imaginäre und hörbare – Töne vor. Diese können aber auch von dem das Kunstwerk Durchschreitenden kommen oder von ihm erdacht werden. Denn wir „sehen“ mit allen unseren Sinnen.
Gerhard Kolberg
Museum Ludwig, Köln
in: RITA ROHLFING, Ausst.-Kat./exh. cat. Köln, Gothaer Kunstforum, Köln 2000, o. S./n.p