3. Dezember 2021

Diana Lenz-Weber

HOFFENT_LICHT

Während der Aufbauarbeiten der Ausstellung von Rita Rohlfings HOFFENT_LICHT hat es uns alle kalt erwischt: eisige Temperaturen und Kontaktbeschränkungen drückten gleichermaßen aufs Gemüt. An den klirrendkalten Februartagen 2021, inmitten des Corona bedingten Lockdowns, war die Verlassenheit vor dem Gustav-Lübcke-Museum verstärkt spürbar. Erstaunlicherweise wagten sich trotzdem einige Passanten die schneebedeckten und vereisten Treppenstufen des Museumsvorhofes hinauf, angezogen von der markanten Glasfassade des Studioraumes, die in jenen winterlichen Tagen im Begriff war, in ein warmes Farblicht getaucht zu werden. Trotz der Kälte verweilten die Menschen vor dem Museum, pressten ihre Nasen an die halbtransparenten Fensterscheiben, um zu erspähen, was sich dahinter tat. Die erwartungsvollen Blicke und die stillen Versammlungen der Kunsthungrigen konnte man durchaus verstehen, vor allem stimmten sie die Künstlerin und das Museumsteam ein Stück weit optimistisch, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Erwartung auf eine rasche Ausstellungseröffnung und damit eine Begegnung mit der Kunst illusorisch war. Es herrschte Hoffnung in Zeiten der Hoffnungslosigkeit, und es gab eine Nähe, die der Trennung entgegentrat. Der Lockdown stellte sich wie ein immerwährender Winter dar, und die Warnungen davor, dass es noch kälter werden und noch schlimmer kommen könnte, lagen wie Eis auf dem Leben und auf der Kunst. Aber Stillstand wurde nicht zum Prinzip erhoben. Nach einem langen Jahr benötigten die Menschen nicht nur Impfstoffe, sondern auch Hoffnung. Die Devise des Aufbauteams lautete: „Let‘s do it“: Angehen, standhalten, vollenden – immer mit Blick auf den selbst auferlegten Fertigstellungstermin der Ausstellung am 21. Februar 2021. Denn um was es ging, war das ständige Hoffen auf das Licht am Ende des Tunnels, das Hoffen auf eine neue Zeit, in der Kunst sich zeigen darf oder kann. Die Welt braucht auch heute noch viel Licht und Farbe. In Zeiten wie diesen vielleicht sogar ein bisschen mehr. Nicht von ungefähr kommt daher auch der Titel HOFFENT_LICHT der Schau. Diese während des Ausstellungsaufbaus ersonnene Wortschöpfung weckt vielfältige gedankliche Assoziationen.

Für die Ausstellung HOFFENT_LICHT, die Teil der Ausstellungsreihe Hellweg Konkret II ist, stand Rita Rohlfing im Gustav-Lübcke-Museum das 170 qm² große sogenannte Studio zur Verfügung, seit einigen Jahren beliebter Ort für Gegenwartskunst. Rita Rohlfing nutzt den Raum jedoch nicht schlichtweg zur Präsentation, sondern sie verschmilzt Lebenswelt, Architektur, Raum und Kunst zu einer durchdachten Einheit. Ein derartig einzigartiges Projekt hat es im Hammer Museum noch nicht gegeben. Nach eingehender Auseinandersetzung mit dem von den beiden dänischen Architekten JØrgen Bo und Vilhelm Wohlert konzipierten Museumsbau, der Architektur des Studios und dem angrenzenden städtischen Umfeld konzipierte und realisierte die Künstlerin eine Ausstellung mit repräsentativen Arbeiten aus ihren wichtigen Werkgruppen. Außerdem entstand eigens für die Schau eine große Installation, die sowohl von innen als auch von außen enorm wirkungsvoll ist. Jeder der ausgewählten Arbeiten gebührt ausreichender Platz, um für sich allein zu wirken. Einzeln erobern die Werke sich den in drei zusammenhängenden Bereichen gegliederten Raum und treten auch in spannende Beziehungen. 

In den letzten drei Jahrzehnten hat Rita Rohlfing ein gewaltiges Œuvre geschaffen. Die im Jahr 1964 in Bad Oeynhausen geborene und heute in Köln lebende Künstlerin hat an der Hochschule für Bildende Kunst in Braunschweig (1985–91) und an der School of Visual Art in New York (1994–95) Freie Malerei studiert. Während ihres Aufenthalts in den USA hegte sie ein starkes Interesse für die Kunst der Abstrakten Expressionisten. Die Künstlerin arbeitete mit großer Experimentierfreude und folgte dem unbändigen Willen sich auszuprobieren, indem sie in wohlüberlegten, logischen Schritten ihre traditionell in der Fläche angelegte Bildkunst in den dreidimensionalen Raum übertrug.  

Bereits ihre shaped canvases, noch traditionell mit Öl- und Acylfarben bemalte Leinwände, sind dreidimensional angelegt.1 Hinzu kommt statt einer klassisch rechteckigen Form, mit der Ruhe und Statik artikuliert wird, eine asymmetrische Einfassung, die nicht nur Räumlichkeit, sondern auch Bewegung suggeriert. Um das Licht einzufangen, ist die Farbe nie gänzlich monochrom und glatt aufgetragen. Auf diese Weise strahlt das Rot, das den shaped canvases eigen ist, nicht expressiv, sondern unaufdringlich und wandelbar in den Raum. Es strömt, vibriert und atmet. 

Zwei neu für die Ausstellung geschaffenen Arbeiten repräsentieren die Werkgruppe der untitled spaces, die auf den ersten Blick durch eine präzise Strenge bestechen. Bei dieser Serie kommen Aluminium und Lackfarbe zum Einsatz. Obwohl das flache Aluminium als Träger nur drei Millimeter misst, simulieren die untitled spaces eine erstaunliche Plastizität. Formbestimmend sind spitze und stumpfe Winkel. Sowohl die Farbe als auch einzelne Randbereiche, bei denen das Aluminium sichtbar bleibt, zeichnen sich durch einen zarten matten Schliff aus. Durch das mehrmals wiederholte feine Auftragen und Abschleifen der glänzenden Lackfarbe gelang es der Künstlerin – wie bei ihren shaped canvases –, eine samtige, leicht poröse Oberflächenstruktur zu erzeugen, die sich je nach Lichteinfall wandelt. Als leidenschaftliche Verfechterin einer gattungsübergreifenden wie partizipativen Kunst eröffnet Rita Rohlfing mit jeder ihrer künstlerischen Arbeit uns durch aktive Teilnahme stets neue Erfahrungsräume, immer mit dem Anspruch zu irritieren. Bei jedem Schritt und jeder geänderten Entfernung der Betrachtenden springen die untitled spaces überraschend um, wirken das eine Mal flächig, das andere Mal dreidimensional, länger oder kürzer. Es entsteht die Illusion, dass sie sich der realen Wandarchitektur entgegenstellen. Betont durch ihre feine Schattenkante, geben diese Arbeiten den Anschein, als würden sie vor der hellen Wand schweben. Besonders wandlungsfähig und raumbestimmend ist das sich über 250 cm spannende Werk aus dieser Serie. Durch seine nach rechts extrem verjüngte Diagonale hebt es die Statik und Schwere des Raumes auf. Dadurch gewinnt das Werk eine bemerkenswerte Leichtigkeit auf der Wand und entfaltet eine Dynamik in den Raum hinein. „Der Künstler braucht nur so viel Kunstfertigkeit, wie erforderlich ist, um sein konkretes Ziel zu erreichen. Sollte er mehr davon haben, ist es sogar besser, wenn wir nichts davon erfahren, denn die Darbietung dieser technischen Brillanz würde lediglich seine Kunst beschädigen“, sagte Marc Rothko, einer der wichtigen Vertreter des Abstrakten Expressionismus, dessen Arbeiten ähnlich wie Rohlfings untitled spaces Variationen der Unendlichkeit und einer erhabenen Stille sind.2 Wenn auch Rohlfings untitled spaces durch ihre emotionale Farbwirkung eine Verankerung im Bereich der Farbmalerei besitzen und sinnlich-körperlich erfahrbar sind, so können sie mit ihrer Betonung von Material und Raumwirkung doch eher als subtile körperhafte Objekte verstanden werden. Vor allem durch unsere Bewegung und eine permanent sich verändernde Sichtweise wird klar, wie genial und verwirrend komplex diese raffiniert schlichte Kunst ist. 

Mit Vorliebe verwendet Rita Rohlfing moderne, industriell gefertigte Materialien wie Farbpigmente, Farblacke, Acrylglas, Edelstahl und Aluminium. Aluminium, ein Element zwischen Industrie und Design, gebrauchten Konstruktivisten wie Alexander Rodschenko und Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin bereits in den 1920-er Jahren mit großer Selbstverständlichkeit. Das korrosionsbeständige Metall ist zwar recht kostspielig, aber durch seine Leichtigkeit und hohe reflektierende Kraft auch für künstlerische Gestaltungen äußerst beliebt. Aus einem gebogenen Aluminiumblech hat Rita Rohlfing das Bodenelement Die Welle (2001) geschaffen. Die experimentierfreudige Künstlerin, deren technisches Wissen wie handwerkliches Können herausragend ist, entwickelte diese Arbeit als Antwort auf die spannende Frage, welche Stärke ein vier Meter langes übereinandergeschlagenes und an den Enden sich berührendes Aluminiumblech haben muss, damit es in solch einer stabilen Konstellation bestehen bleibt und nicht zurückschnalzt. Wie in den meisten ihrer Arbeiten steckt auch in diesem Objekt viel Hand-, sogar Schwerstarbeit. Aus großer Distanz lockt die am Ende eines langstreckten Raumes platzierte Welle durch seine formale Gestalt, was beim Näherkommen noch erheblich verstärkt wird. Auf der Außenseite des Objekts zeigt sich das Material in seiner natürlichen Beschaffenheit. Das Innere der Welle, das man nur erkunden kann, wenn man sich hinunterbückt, ist komplett mit den Farben Rot und Magenta ausgemalt. Der Schnittpunkt der beiden, sich auch im Farbkreis nahestehenden Farben hat sich interessanterweise zufällig ergeben. Die Künstlerin fixierte nämlich den Lichteinfall, wie er in einem bestimmten Moment in ihrem Kölner Atelier auf das Objekt einwirkte. Das spielerische Zusammenwirken von Licht, Farbe und Material verleiht der mächtigen Welle eine entspannte Schwerelosigkeit. 

Die vier Arbeiten, Kristallblau (2014), Immateriell Blue Space (2015), Immaterial White Space (2016) und Purple (2013) repräsentieren die Serie der color spaces. Die Farbe liegt jeweils im Inneren eines rechteckigen, 22 cm tiefen Wandobjekts aus mattiertem, gleichmäßig geschliffenem Acrylglas. Die Positionierung der jeweils mit leuchtendem Rot, Blau oder lichtem Grau oder Weiß bemalten Innenelemente, deren Farbkraft durch das mattierte Glas zurückgenommen wird, ist bei der Betrachtung nicht bestimmbar. Was von einem Standort aus gesehen farblos anmutet, kann aus einer anderen Position zum reinsten Farberlebnis werden. So gesellt sich plötzlich etwa ein Pink zum Blau, obwohl das Pink real nicht vorhanden ist. Die Farbe taucht urplötzlich aus dem Nichts auf und entschwindet wieder. „Bei meiner Arbeit geht es um die Auflösung des Materiellen“, erläutert die Künstlerin.3 Ihr künstlerisches Potential, mit einfacher Kunst Farbe als im Raum schwebendes und immaterielles Element wirken zu lassen, zeigt sich fast noch augenfälliger bei den color spaces. Hier scheint Farbe leichter als Luft, je nach Standpunkt wie ein Hauch. Rita Rohlfings Arbeiten sind keine Ausstellungsstücke, an denen man rasch vorbeieilt. Jede Perspektive und jeder neue Lichteinfall eröffnen eine neue Kunst. Der Künstlerin liegt es fern, die Entstehung ihrer Arbeiten zu offenbaren. Für die Betrachtenden bleibt das „Wie“ rätselhaft. Zu zitieren sei an dieser Stelle das verbreitete Statement von Georges Braque, einem der wichtigen Initiatoren des Kubismus: „In der Kunst muss man sich mit dem Entdecken begnügen und sich vor den Erklärungen hüten. In der Kunst zählt nur Eins: Das, was man nicht erklären kann.“4 Rita Rohlfings Kunst reizt mit grandiosen Täuschungsmanövern und ruft ständig wechselnde visuelle Reize hervor. Das Interesse an den Arbeiten für uns bleibt bestehen mit dem unablässigen Versuch des Analysieren-und-Entschlüsseln-Wollens. Auf der einen Seite strahlen sie Ruhe und Strenge, auf der anderen Seite Lebhaftigkeit und Energie. So bewahren sie in dieser Ambivalenz das für die Kunst wesentliche Prinzip des Geheimnisvollen.

Im Kontext der color spaces steht die Skulptur Anscheinend (2008). Äußerlich präsentiert sie sich als klare geometrische, geschlossene Konstruktion eines hochaufragenden Skulpturendreiecks, bestehend aus zwei reflektierenden Edelstahlwänden und einer darin exakt eingespannten Acrylglaswand. Ihr Inneres ist vage, durchströmt von einem verflüchtigenden Blau, das sich durch die mattierte Glaswand sanft in den uns umgebenden Raum drängt. Dadurch scheint das Geschlossene sich zu öffnen, so dass eine Verbundenheit zwischen Innen und Außen erlebbar wird. Zudem zieht der Kontrast zwischen den beiden Metallflächen der Skulptur und dem unklaren Raum hinter der Scheibe das Augenmerk von der Oberfläche weg ins Innere, in die Imagination. So gelingt es der Künstlerin, sowohl der äußeren als auch der inneren Beschaffenheit ihrer Skulptur gleichermaßen Bedeutung zu verleihen. Äußerer Raum und geschlossener Raum der Skulptur bilden keinen Widerspruch, keine Trennung, sondern eine Einheit. Beim Umschreiten des Objekts erlebt man, wie die Strukturen der fast malerisch wirkenden Oberflächen des feinen Edelstahls, die durch Schleifungen entstanden sind, das changierende Farbenspektrum des umgebenden Raums reflektieren. In der Ausstellung ist die erhabene, stille Form auf eine Ecke des Studioraumes hin ausgerichtet. Das nahezu raumhohe Objekt erfährt dadurch die Aufmerksamkeit, das ihm gebührt und ohne dass es die benachbarten Werke kleineren Formats unterdrückt. Seine dreieckige Form spiegelt sich bei genauer Aufmerksamkeit in der ebenfalls ein Dreieck beschreibende Anordnung mit den sich gegenüberhängenden Wandobjekten Purple und Kristallblau wider. 

Seit den letzten Jahren hat Rita Rohlfing ihr Werk um den Bereich der Fotografie erweitert. Die neu für die Ausstellung in Hamm entstandenen drei Fotografien, davon zwei im quadratischen und eine im Hochformat, tragen alle den Titel: Hommage to the square (2021). Der dabei unmittelbar aufkommende Gedanke an Josef Albers gleichnamige, gewaltige Bildserie, die im 20. Jahrhundert internationale Aufmerksamkeit erfahren hat, ist naheliegend. Jedoch mit den Quadraten im Hardedge des Konstruktivisten haben Rohlfings fotografische Arbeiten wenig gemein. Zunächst bestechen die gezeigten Werke durch ihren Glanz. Von silbrigen, winzigen, in sich erhabenen Quadraten, die stellenweise in Rot, über Grau bis hin zu Schwarz schimmern, wird man bei der Betrachtung zu einer ständigen Vor- und-Zurück-Bewegung verleitet. Das Fotografierte erschließt sich in den Fotografien nicht, egal von wo aus man sie betrachtet. Aus der Ferne wirken die auf Aludibond befestigten Aufnahmen wie Gemälde, in denen sich die Illusion von fließender Bewegung, die die Künstlerin plastisch herausgearbeitet hat, darstellt. Ein zähfließender, Strom, dem durch vielfältige Reflexe eine unglaubliche Strahlkraft und Lebendigkeit verliehen wird, scheint sich vor unseren Augen zu ergießen. Man versucht, das flirrende Gebilde zu erwandern, Figuren und Muster hineinzusehen, das Tänzerische, das Rhythmische in der fließenden Bewegung aufzufangen. Um Aufschluss zu gewinnen, wird vermutlich jeder Betrachtende, der sich mit diesen Arbeiten eingehend beschäftigt, näher an sie herantreten, in Erwägung, aus geringerer Entfernung mehr Einzelheiten zu erkennen und so Klarheit über die Motive zu erlangen. Aus einer mittleren Distanz, etwa aus zwei Metern, vermutet man eine Materialbeschaffenheit vor Augen zu haben. Man erfasst deutlich die Erhabenheit der gestanzten Quadratwinzlinge und deren ungeheure Komplexität, die bei der allmählichen Annäherung mehr und mehr verschwimmt. Aus minimaler Nähe gesehen erscheinen die Details extrem unscharf und pixelig. Auch die präsentierten Fotografien faszinieren durch den irritierenden Wechsel von Konkretem und Spielerischem und wecken durch die Abkehr von einem einsinnigen Motiv unterschiedlichste Assoziationen. Über das tatsächliche Motiv möchte die Künstlerin den Mantel des Schweigens decken. Wenn die Beobachterin und der Beobachter ihren Scharfsinn nutzen, werden sie in der Ausstellung dem Ursprung des Motivs auf die Spur kommen.  

Als Rita Rohlfing zum ersten Mal das Studio, das zur Präsentation ihrer Werke bestimmt wurde, betrat, war ihr bereits klar, dass sie neben ihren mobilen Kunstwerken in Hamm zusätzlich eine temporäre Installation realisieren wollte. Als Ort für ihre Neuschöpfung wählte sie die ausdrucksstärkste Raumkomponente im Studio, jenen von vier weißen Säulen getragenen und mit einer L-förmigen weit ausladenden Fensterreihe ausgestatteten Bereich, von wo aus sich ein weitläufiger Blick in den Außenraum bietet. Eine ortsbezogene Installation ist jedes Mal eine neue Herausforderung für die Künstlerin, denn es herrschen immer andere situative Bedingungen. Die Künstlerin, in deren Händen die Konzeption lag, beschäftigte sich intensiv mit der Architektur des Ortes und mit dem regionalen und sozialen Umfeld. Immer wieder beobachtete sie dabei, wie sich das Licht zu den unterschiedlichen Tageszeiten und Witterungen auf die örtlichen Gegebenheiten auswirkte. Ihre Impressionen hielt sie in einer Fülle fotografischer Aufnahmen fest als wertvolle Basis für die im Folgenden im Kölner Atelier entworfenen zahlreichen Skizzen und Farbkonzepte. Aus ihnen entstand letztendlich ein transportables Modell als Vorlage für den Aufbau der Installation und für die gesamte Ausstellungspräsentation. 

Auf den vertikal streng gegliederten, raumhohen Fenstern haften teilweise übereinanderliegende transparente Folien, hauptsächlich in Rot und Pink sowie Orange, Gelb und Violett, präzise ausgemessen und bündig einwandfrei appliziert, damit sie mit dem Glas eine homogene Einheit bilden. Die Fensterfolien, die Rita Rohlfing für die Ausstellung in Hamm erstmals verwendet, bewirken die Aufhebung der Trennung von innen und außen. Die Glasfront fungiert nicht mehr als eine strenge Abgrenzung, als ein strenger Schnittpunkt, sondern als wohltuendes und wirkungsvolles Verbindungsglied von Ausstellungsraum und Umraum des Museums. Ebenso geht mit der Veränderung des Innenraums auch eine Verwandlung des Außenraums einher. Beim Blick in die Außenwelt sind sowohl der Museumshof mit seinem markanten Säulenwald als auch das quirlig urbane Leben in ein diffuses Licht warmer Farbigkeit gehüllt. Der Innen- und Außenraum scheinen in einen behutsamen Dialog zu treten. Das Draußen scheint nicht mehr – wie zuvor – Hektik zu vermitteln, sondern ihm haftet durch das sanfte Licht eine gewisse Sensibilität an. Anders als durch eine klare Trennungsscheibe, werden Menschen, Dinge und Architekturen durch einen angenehmen Filter wahrgenommen. Durch die farblich differierenden Fensterfolien sind die Konturen der Außenwelt sfumatohaft in ein zartes nebelhaftes Licht getaucht, Hell-Dunkel-Übergänge verschwimmen ineinander wie Rauch, die Umgebung unter freiem Himmel changiert in unterschiedlichen Tönungen. Es entstehen ständig sich verändernde visuelle Reize, die sich durch die über den gesamten Boden ausgebreitete silbrige Folie noch potenzieren. Das Material, ein Industriestoff, der eigentlich zur Wärmedämmung für Dächer verwendet wird, liegt in langen Bahnen dicht neben- und diagonal übereinander. Durch seine glänzende Oberfläche bildet die Folie auf dem Boden ständig Reflexionen, die durch die leichte Erhabenheit der tausendfachen winzigen gestanzten Quadrate und den teilweise aufgetürmten Folien ins Unermessliche unermesslich steigern. 

Um dies zu erfahren, lässt sich auch die Installation nicht einfach nur betrachten. Die Besucherinnen und Besucher werden nicht auf Distanz gehalten, sondern aufgefordert, sich in die Installation hineinzubegeben, sie zu fühlen, sich einerseits darin treiben lassen, andererseits auch innezuhalten und aufmerksam zu bleiben. Auf die physische Bewegung, durch die eine sich ständig verändernde Wahrnehmung entsteht, folgt eine innere Bewegtheit, die ein Denken und Reflektieren hervorruft und der auferlegte Wille und der Wunsch, das Unbegreifliche zu erforschen und zu ergründen. Kindliches Staunen wird geweckt, vielleicht auch so etwas wie Glücksgefühl. Durch ständigen Perspektivwechsel erlebt man Farbe, Licht und Schwerelosigkeit geradezu im Raum, in dem man sich befindet. Ohne etwas anzufassen, spürt man „ein warmes Wühlen“, wie die Autorin Ulrike Schröder das Empfinden trefflich bezeichnete, eine angenehme Mischung aus Intimität und ätherischer Transparenz.5 „Indem die Betrachterin und der Betrachter selbst Teil der Installation ist, können sie erkennen, dass die Grenzen zwischen der realen und irrealen sowie zwischen der materiellen und immateriellen Welt immer mehr verschwinden“, sagt die Künstlerin, die es virtuos vermag, auf sensible Art und Weise das Publikum zu irritieren.6 Mit ihrer temporären Neuschöpfung hat sie keine totale Installation geschaffen, bei der ein Ort ganz und gar um- bzw. völlig neu gebaut wird, sondern behutsam in Raum und Architektur eingegriffen und damit jedoch eine enorme Wirkung erzielt. Der Studioraum mit seiner charakteristischen Strenge wird neu definiert, wird zu einem kontemplativen und zugleich magischen Ort. 

In der Außenansicht erscheint die eigentlich mit unterschiedlich gefärbten Folien bestückte Glasfassade erstaunlicherweise in einem annähernd einheitlichen pinkroten Farblicht, das bei Dunkelheit besonders auffällig in den öffentlichen Raum abstrahlt. Tagsüber, etwa bei hellem Sonnenschein, spiegelt sich in den Glasscheiben brillant der Wechsel von Licht und Schatten ebenso wie das Spiel der Vegetation, die Architektur des Museumshofs, die vorbeibrausenden Fahrzeuge und umherziehenden Passanten. Unbefangen fügt sich der äußere Raum in die formal streng gegliederte und farbig strahlende Fensterreihen ein, verschmilzt mit ihr in einer Leichtigkeit, so dass man den Eindruck erhält, dass Umgebung und Museumsbau zu einer lockeren, quicklebendigen Einheit zusammengewachsen sind. Die hell leuchtende Fassade mit ihren sich darin spiegelnden Variationen ist impulsgebend für jede Betrachterin und jeden Betrachter, auch für diejenigen, die sich sonst nicht unbedingt mit der Kunst auseinandersetzen. Die Menschen bekommen das Gefühl, dass das Museum ein selbstverständlicher Ort ist, der ihnen entgegenkommt. Sie können von außen nach innen und umgekehrt von innen nach außen blicken. Ihre Blicke sind aufgrund des in warmes Licht getauchten Glases bei weitem nicht voyeuristisch, sondern wirken interessiert, angenehm neugierig. Je weiter man sich von der Glasfassade entfernt und gar über die große Bahnhofstraße hinweg auf die gegenüberliegende Straßenseite tritt, desto größer wird jene formale Einheit, die Rita Rohlfing mit ihrer Fensterinstallation und der Museumsarchitektur erreicht. 

„Nichts ist konkreter als eine Linie, eine Farbe, ein Plan“, sagte Theo van Doesburg, einer der Pioniere der Konkreten Kunst.7 Zwar kann man diese Elemente auch in Ritas Rohlfings Schaffen sehen, gleichwohl geht die Künstlerin weit über das Konkrete hinaus und vertritt eine eigenständige Position innerhalb der konstruktiven/konkreten Richtung. Ihre Arbeiten beeindrucken durch ein faszinierendes Zusammenspiel von stiller rationaler Strenge und irritierender Wirkung, von klarer materieller Präsenz und immaterieller und transzendenter Erscheinung. Zweifelsohne spiegelt die Kunst von Rita Rohlfing unsere Zeit. Zwischen Sein und Schein bewegend, spielt die Künstlerin sanft auf die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt an, in der die Grenzen zwischen dem Virtuellen und dem Realen nahezu aufgehoben sind.8 Rohlfings ästhetischer Reichtum und künstlerisches Potential reflektiert die Tatsache, dass wir in einer Welt leben, die ins Wanken geraten ist. Das Leben ist unvorstellbar komplex und in vielem unbegreiflich geworden. Zwar verändert kein Kunstwerk die Welt, aber Rohlfings Kunst anscheinend die Gedanken darüber. 

Während des Ausstellungsaufbaus im Februar 2021 keimte in Rita Rohlfing der Gedanke, durch ein weiteres Kunstwerk im Außenraum die Aufmerksamkeit auf den Ort zu lenken, um auf diese Weise dem langen Lockdown noch mehr Paroli zu bieten und den kulturellen wie sozialen Stellenwert des Gustav-Lübcke-Museum zu artikulieren. Unter dem Titel „Neugier ist die Eintrittskarte“ konzipierte die Künstlerin gemeinsam mit der Berliner Autorin Ulrike Schröder eine Außeninstallation mit unterschiedlichen Wort- und Satzfragmenten.9 Die farblich ansprechenden Wortschöpfungen, jeweils auf der vordersten Säulenreihe haftend und von der Straße aus deutlich lesbar, sind einerseits klar verständlich, andererseits geben sie etliche Rätsel auf. „Jedes steht für sich, sie können aber auch puzzleartig miteinander verbunden werden, und dann ergibt sich etwas“, sagte die Autorin.10 Durch dieses geistreiche und anregende Werk teilt sich Kunst allen mit. Ihr wird das das Einschüchternde genommen. Und infolgedessen verliert sie das Elitäre.

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1   Vgl. Gabriele Uelsberg, Farbskulpturen, in: Rita Rohlfing ׀ Ausst.-Kat. zur Ausstellung in der Städtische Galerie Villa Zanders, Bergisch Gladbach 15.01– 29.02.1999 und im Kunstmuseum in der Alten Post, Mülheim/a.d. Ruhr 10.06–08.08.1999, Bramsche 1999, S. 5-7.

2   Zitat von Marc Rothko, in: Robert Rosenblum, Die Moderne Malerei und die Tradition der Romantik. Von C.D. Friedrich zu Marc Rothko ׀ München 1981, S. 227.

3   Gespräch der Textverfasserin mit Rita Rohlfing am 9. Februar 2021.

4   Zitat von Georges Braque, in: Südwest Galerie (SWG) suedwestgalerie.de. 

5   Die Wortschöpfung entstand im Gespräch zwischen Künstlerin und der Autorin Ulrike Schröder.

6   Gespräch der Textverfasserin mit Rita Rohlfing Künstlerin und Textverfasserin am 9. Februar 2021.

7   Zitat von Theo van Doesburg, in: Schweizer Malerei von Erika Billeter (Hg.), Bern 1990, S. 226.

8   Gespräch der Textverfasserin mit Rita Rohlfing am 9. Februar 2021.

9   Gespräch der Textverfasserin mit Rita Rohlfing am 9. Februar 2021.

10 Interviewgespräch von Dierk Hartleb, Westfälische Nachrichten mit der Autorin Ulrike Schröder am 18.02.2021.