Bettina Zeman
Für die Ausstellung „Das Virtuelle im Konkreten“ hat sich Rita Rohlfing eingehend mit den Räumlichkeiten des Clemens Sels Museums Neuss auseinandergesetzt. Von den architektonischen Gegebenheiten ließ sie sich zu einem ortsspezifischen Konzept inspirieren, das sowohl eine Installation im Gartensaal als auch eine Projektion im Foyer und ausgewählte Acrylglasobjekte, Wandarbeiten und Fotografien umfasst. Durch das wohlkalkulierte Zusammenspiel ihrer Werke wirkt die Künstlerin der architektonischen Strenge, der Schwere und der Abgeschlossenheit des Deilmann-Baus aus den 1970er-Jahren sehr eindrücklich entgegen zugunsten von Leichtigkeit, Flüchtigkeit und Tiefenräumlichkeit.
Die Ausstellung vereint die verschiedenen Werkgruppen im Schaffen von Rita Rohlfing. Diese lassen sich jedoch nicht klar voneinander abgrenzen; sie gehen vielmehr fließend ineinander über und beeinflussen sich wechselseitig. Rita Rohlfing überschreitet in ihrer Kunst ganz bewusst die Gattungsgrenzen, um jene Zwischenbereiche auszuloten, die sich einer eindeutigen Erfassung und abschließenden Definition entziehen. Ihre Arbeiten bewegen sich immer wieder neu und anders an den Schnittstellen von Malerei, Skulptur und Installation, von Malerei und Fotografie sowie von Fotografie und Architektur.
Für das Foyer des Clemens Sels Museums Neuss hat Rita Rohlfing erstmals in ihrem Schaffen eine Projektion realisiert. Die Künstlerin ließ sich von der Schwere und konstruktiven Strenge des Treppenhauses inspirieren, das den Eingangsbereich dominiert. Auf diesen Betonkörper hat sie eine großformatige Architekturaufnahme projiziert, die vor allem durch ihre extreme Untersicht und die aufsteigenden Feuerleitern fremd und rätselhaft erscheint. Bei der Projektion, die in ihrer Dimension und ihrem Ausschnitt den architektonischen Gegebenheiten folgt, ist es nicht der Einsatz von Farbe, sondern vielmehr die feine und kleinteilige Struktur, die der strengen Form und visuellen Härte des Treppenhauses entgegenwirkt. Durch diesen gezielten Eingriff hebt Rita Rohlfing das Konstruktive der realen Architektur scheinbar – also rein virtuell – auf und lässt ein visuelles Wechselspiel von Leichtigkeit und Schwere, Nähe und Ferne, Groß und Klein entstehen, das sich wirkungsvoll zwischen Realität und Projektion, zwischen Umraum und Kunstwerk entfaltet.
Die Projektion leitet über auf vier großformatige Fotografien an der Stirnwand des Foyers, die durch ihre formale Anlage und verhaltene Tonigkeit bestechen. Ebenso wie die vier kleineren Aufnahmen im Zwischengeschoss sind diese eigens für diese Ausstellung entstanden. Mit der Fotografie hat sich die Künstlerin vor allem 2015 intensiv auseinandergesetzt und damit ihr Schaffen um ein weiteres Medium bereichert, das ihr neue experimentelle Möglichkeiten innerhalb ihres Werkganzen eröffnet. So tragen die Fotografien den programmatischen Titel „s c h e i n b a r“, denn auch die malerisch anmutenden Aufnahmen entziehen sich – wie etwa auch die Acrylglasobjekte der Künstlerin – der Eindeutigkeit: Je näher man an die Fotografien herantritt, desto mehr lösen sich die Spuren und Lichtkegel auf in vielteilige Formen, Strukturen und eindrückliche Hell-Dunkel-Kontraste. Die Fragen nach dem aufgenommenen Motiv, dem Ort und dem Material bleiben unbeantwortet und treten zurück zugunsten eines unbestimmbaren pulsierenden Bildraums, in den der Blick des Betrachters eintaucht und sich verliert.
Demgegenüber bestechen die beiden Wandarbeiten „metallica“ und „untitled space“ durch ihre klaren geometrischen Formen, die die konstruktive Strenge der Architektur kommentieren. Die viereckige, asymmetrische Arbeit „metallica“, die die Künstlerin eigens für die Ausstellung geschaffen hat, greift in ihrer gelängten Form und aufsteigenden Anbringung die Diagonale der Treppenhausarchitektur auf, um jedoch entgegen der Statik und Schwere des Betonkörpers eine bemerkenswerte Dynamik und Leichtigkeit auf der Wand und in den Raum hinein zu entfalten. Durch den lichten Farbton, der je nach Standpunkt und Lichteinfall zwischen einem hellen Grau und einem zarten Rosa changiert, und die samtig-matte Oberfläche verliert die Aluminiumtafel optisch an materieller Schwere. Sie beginnt scheinbar zu pulsieren und gleichsam – betont durch die feine Schattenkante – vor der weißen Wandscheibe zu schweben. Ebenso wie „metallica“ fordert auch „untitled space“ zu einem unentwegten Wechsel von Standort und Perspektive auf, ohne jedoch die Momente von Irritation und Unsicherheit zu überwinden. Durch das mehrfache Schleifen der glänzenden Lackfarbe, die Rita Rohlfing in vielen dünnen Einzelschichten auf den Aluminiumträger aufgetragen hat, entsteht eine matte, samtene Oberfläche, die in ihrer feinen, offenporigen Struktur ebenso wie in der Helligkeit und Dichte ihrer Färbung je nach Lichtsituation differiert. Entgegen der formalen Klarheit und Strenge verbleibt „untitled space“ durch das Changieren des grauen Farbtons mit seinem rötlichen Schimmer sowie durch die Bewegung und Offenheit evozierende Oberflächenstruktur in einem Stadium von Unbestimmtheit und stetem Wandel. Diese Arbeit steht beispielhaft für jene Werkgruppe der Künstlerin, die neben dem Verzicht auf rechte Winkel die farbig gefassten Flächen in schmale, matt geschliffene Randbereiche übergehen lässt. Wegen der gezielten perspektivischen Brüche täuschen diese Arbeiten eine Tiefe der nur 3 mm starken Aluminiumtafel und damit eine Plastizität und Materialität vor, die rein virtuell existiert. Der Betrachter versucht vergeblich, das visuelle Wechselspiel von Vorder- und Hintergrund, von Ein- und Zweidimensionalität, von Fläche und Raum zu erfassen und das optische Rätsel zu lösen.
Auch mit den architektonischen Voraussetzungen und besonderen Gegebenheiten des Gartensaals hat sich Rita Rohlfing intensiv auseinandergesetzt. Für diesen Raum, der sich mit seiner langen Fensterfront zur angrenzenden Parkanlage öffnet, hat die Künstlerin eine Rauminstallation mit dem Titel „ANSCHEINEND“ aus Acrylglas und farbigen Elementen realisiert, die sich über eine Höhe von mehr als vier Metern und eine Breite von knapp zwei Metern wirkungsvoll entfaltet. Durch diesen künstlerischen Eingriff in die vorhandene Architektur hat Rohlfing ein Fenstersegment in einen leuchtenden Farbraum verwandelt. Im Gegensatz zu ihren Acrylglasobjekten an der gegenüberliegenden Wand kann der Betrachter nun von zwei Seiten – von innen und von außen – in den Farbkörper aus zwei verschiedenen Rottönen visuell eintauchen. Je nach Blickwinkel und je nach Einfall und Intensität des natürlichen Lichts, das auch durch den bewusst belassenen Zwischenraum fällt, verändert sich die Wirkungsweise des imaginären Raums, dessen Kolorit durch die mattierte Oberfläche von Acrylglas und Fensterscheibe als diffuser roter Farbschimmer in den Innen- und Außenraum strahlt. Rita Rohlfing schafft mit ihrer Installation „ANSCHEINEND“ einen bemerkenswerten Farbraum, durch den virtueller und realer Raum verschmelzen und die Trennung zwischen Innen- und Außenraum – zwischen Architektur und umgebender Landschaft – optisch aufgehoben wird. Vor allem in der Außenansicht wird die Arbeit zum Spiegel des natürlichen Umraums. Denn je nach Tageszeit, Witterungsverhältnissen und Jahreszeit ist die Arbeit „ANSCHEINEND“ einem unentwegten Wandel unterworfen, indem der Wechsel von Licht und Schatten ebenso wie das Spiel der Blätter und Äste die Farben und Formen zum Strahlen und Pulsieren bringen und in Bewegung versetzen. Je weiter sich der Betrachter schließlich von der Arbeit entfernt und in die umgebende Parklandschaft zurücktritt, desto größer wird jene farbliche und formale Einheit, die Rita Rohlfing zwischen Kunstwerk und Architektur erreicht. So scheinen die schmalen aufstrebenden Paneele und ihre orange-rote Farbgebung gleichsam auf die gelängten Formen des Deilmann-Baus mit seinen Streben und Laibungen ebenso wie auf seine charakteristischen roten Backsteine zu antworten.
Wie bei allen Kunstwerken von Rita Rohlfing spielt für die Rauminstallation ebenso wie für die Acrylglasobjekte und die mehrteilige Arbeit „AMBIVALENZ“ der Standort des Betrachters eine zentrale Rolle. Denn je nach Position und Perspektive verändern sich die Formen und Farben – die Arbeiten sind einem Wandel von Schärfe und Unschärfe, von Materialität und Immaterialität, von Entstehen und Entschwinden unterworfen. Während sich die schmalen roten Paneele bei der Installation „ANSCHEINEND“ in der frontalen Annäherung in ihrer formalen Strenge und Materialität zu erkennen geben, so scheinen sie ihre haptischen Eigenschaften jedoch einzubüßen, je weiter der Betrachter zur Seite tritt. Auch in den Acrylglasobjekten lösen sich die kräftigen Blau-, strahlenden Violett- oder auch grünlichen Gelbtöne im Zuge der wechselnden Perspektive des Betrachters in ein lichtes Grau und strahlendes Weiß gleichsam auf. Rita Rohlfing lässt mit ihren diffusen Farbräumen die Illusion von fließender Bewegung entstehen, die die Werke ihrer Eindeutigkeit und Greifbarkeit entzieht und in eine rein virtuelle, immaterielle Präsenz überführt, die allein in der Vorstellung des Betrachters entsteht.
Dem raumgreifenden Kolorit und der Vielfalt der Farbklänge stellt Rita Rohlfing die verhaltene Tonigkeit und stille Größe der Wandarbeit „AMBIVALENZ“ gegenüber. Diese antwortet mit der linearen Strenge ihrer beiden scharfkantigen Aluminiumtafeln und mit ihrem metallenen Charakter auf die architektonische Situation des Gartensaals. Die dreiteilige Arbeit steht im Kontext jener Werkgruppe, deren minimalistische Formen durch eine rätselhafte Aura gebrochen werden. Die großformatige satinierte Acrylglasscheibe im Metallrahmen überlagert Teile der monumentalen Hintergrundform, die je nach Standpunkt unterschiedliche Ein- und Durchblicke gewährt. Durch den schmalen Abstand der Paneele wird der Blick auf den länglichen Zwischenraum gelenkt, der durch die gegenständig angeordneten Kanten die beiden Formen optisch vor- und zurücktreten und abermals ein Wechselspiel zwischen Fläche und Raum, zwischen Materialität und Immaterialität entstehen lässt. Durch die Unschärfe bildet sich ein imaginärer Riss auf der Wand, der die reale Architektur in ein unbekanntes Dahinter zu öffnen scheint. Auch mit der Wandarbeit „AMBIVALENZ“ schafft Rita Rohlfing ein überaus diffuses Raumerlebnis, das das Gefühl von Sicherheit und Dauer negiert.
Wie die ausgestellten Werke beispielhaft zeigen, entziehen sich die Arbeiten von Rita Rohlfing einer Kategorisierung und Entschlüsselung. Im Zentrum ihres Schaffens steht vielmehr das Ungreifbare, Rätselhafte und Wandelbare. Das Verneinen von Stabilität kann durchaus auch als Spiegel der Gegenwart gelesen werden, die durch ihre Schnelllebigkeit, Vergänglichkeit und Unsicherheit immer wieder zu einem Standort- und Perspektivwechsel auffordert und in der die Grenze zwischen Realität und Virtualität immer weiter verschwimmt. Die Ausstellung „Das Virtuelle im Konkreten“ sensibilisiert unsere Wahrnehmung und unser Empfinden nachhaltig für die Kraft und die vielfältigen Wirkungsweisen von Farbe, Form und Struktur. Die Werke heben die materiellen Grenzen und optischen Barrieren auf und wirken der realen Architektur entgegen. Es eröffnen sich neue Blickwinkel und überraschende Erfahrungsweisen, in denen sich Sehen und Denken, Wahrnehmung und Reflexion über die Kunst hinaus vereinen.
Bettina Zeman
in: Rita Rohlfing – Das Virtuelle im Konkreten/The Virtual in the Concrete, Ausst.-Kat./exh. cat. Neuss, Clemens Sels Museum Neuss, Dortmund 2016, S./p. 17-45