5. November 2022

RITA ROHLFING – RETRO-PERSPEKTIVE

Diana Lenz-Weber | Auszug aus der Eröffnungsrede vom 15.05.2022

…Hier in diesem größten Raum des Sonderausstellungsbereichs hat die Künstlerin einige ihrer sogenannten shaped canvases untergebracht – keine Leinwände im traditionellen Sinne, sondern dreidimensional angelegt. Statt einer klassisch rechteckigen Form, mit der Ruhe und Statik artikuliert wird, kommen sie asymmetrisch daher. Sie bilden an der Wand Diagonalen oder kleine kesse Auskragungen. Dadurch suggerieren sie Räumlichkeit und Bewegtheit, scheinen die Wand erobern und uns irritieren zu wollen. Das All-Over Rot ist nicht gänzlich glatt, sondern meist nuanciert aufgetragen. Die Farbe fängt das Licht ein und wirkt dadurch unaufdringlich und wandelbar in den Raum. Die Farbe strömt, vibriert und atmet. Die Fensterfront, durch die das Licht nur sanft durchströmt, ist an einigen Stellen von kleinen roten Scheiben durchsetzt. An der einen Wand schweben hoch droben die beiden gotischen Steinfiguren des Hl Stephanus und Sebastian. Fenster und Statuen schwingen mit den shapes. Könnte man fragen. „Wer erhöht hier wen? Oder bildet die Kunst der Vergangenheit und Gegenwart nicht etwa einen spannenden Dialog?

In den letzten drei Jahrzehnten hat Rita Rohlfing ein gewaltiges Œuvre geschaffen. Die in Bad Oeynhausen geborene und seit vielen Jahren in Köln lebende Künstlerin hat an der Hochschule für Bildende Kunst in Braunschweig und an der School of Visual Arts in New York Freie Malerei studiert. Peu à peu und in wohlüberlegten, logischen Schritten hat sie ihre traditionell in der Fläche angelegte Bildkunst auch in den dreidimensionalen Raum übertragen. Sie ist eine Künstlerin, die bei ihrer Präsentation mit den ihr vorgegeben Räumen und Architekturen spielt und es vermag, mit ihrer Kunst Täuschungen und ständig wechselnde visuelle Reize zu erzeugen. Die Ausstellung hier in Beckum zeigt alle Werkphasen der Künstlerin, der Titel Retro-Perspektive könnte nicht passender gewählt sein.

So trifft man auf die sogenannten untitled spaces mit auf Aluminiumplatten gemalte Malereien mit einer kaum wahrnehmbaren porösen Oberflächenstruktur. Diese Arbeiten mit ihren extrem spitzen und stumpfen Winkeln scheinen wie auf der Wand zu schweben. Sie stehen im Dialog mit den color space objects, Wandobjekte aus mattiertem Acrylglas, in denen sich die Farbe im Inneren befindet. Diese wie jene Werke beeindrucken durch ein faszinierendes Zusammenspiel von stiller rationaler Strenge und zugleich irritierender Wirkung. Bei meiner Arbeit geht es um die Auflösung des Materiellen“, erläutert die Künstlerin. Gänzlich durchschauen kann man die Arbeiten von Rita Rohlfing nicht. Wie sagte schon Georges Braque: „In der Kunst muss man sich mit dem Entdecken begnügen und sich vor den Erklärungen hüten. In der Kunst zählt nur Eins: Das, was man nicht erklären kann.“

An Rita Rohlfings Arbeiten sollte man nicht rasch vorbeieilen, sondern sie behutsam erwandern. Jede neue Bewegung jede andere Perspektive und jeder neue Lichteinfall eröffnen eine neue Kunst. Und dann stellt man auch fest, wie verwirrend komplex diese raffiniert schlichte Kunst ist.

Ab dem harten Lockdown, der uns alle erstarren ließ, drängt es die Künstlerin in die Gestik. Auch dabei entstehen All-Over Malereien, deren Kompositionen von einem farbigen Miteinander geprägt sind. Jedes der Elemente greift ineinander über, und auch die Aluminiumplatte als Malträger ist Teil der Gestaltung. Alles ist vernetzt, alles fließt, wie in unserer unsicheren bewegten Welt. Für mich strahlen diese gestischen Bilder ein geordnetes Chaos aus, in dem man herrlich mit den Augen spazieren gehen kann. Man entdeckt sehr plastisch wirkende Details, hier mal dünn, mal gewaltig aufgetragene Farbformen, die nur durch einen schnellen geübten Rhythmus ein stimmiges Ganzes ergeben. Unterschiedliche Betrachter Standpunkte geben auch den gestischen Kompositionen einen im wahrsten Sinn des Wortes immer wieder neuen Anschein.

Seit den letzten Jahren hat Rita Rohlfing ihr Werk um den Bereich der Fotografie erweitert. Das Fotografierte erschließt sich in den Fotografien nicht, egal von wo aus man sie betrachtet. Aus der Ferne könnte man meinen, es handelt sich um Gemälde. Die präsentierten Fotografien, faszinieren ebenso wie die Werke aus den anderen Serien durch eindrucksvolle Lichtreflexe enorme Tiefe und durch den irritierenden Wechsel von Konkretem und Spielerischem. Über das tatsächliche Motiv in den Fotografien möchte die Künstlerin den Mantel des Schweigens decken – gut so! Denn durch die Abkehr von einem einsinnigen Motiv erweckt sie unterschiedlichste Assoziationen. Wo fühlt man sich? Das ist die Frage, die Rita Rohlfing an die Betrachtenden richten will.

Zweifelsohne spiegelt die Kunst von Rita Rohlfing unsere Zeit, unser Leben, das so komplex und in vielem unbegreiflich geworden ist. Zwischen Sein und Schein bewegend, spielt sie sanft auf die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Welt an, in der die Grenzen zwischen dem Virtuellen und dem Realen nahezu aufgehoben sind. Rohlfings ästhetischer Reichtum und künstlerisches Potential reflektiert die Tatsache, dass wir in einer Welt leben, die ins Wanken geraten ist.

Sehr geehrte Damen und Herren, es sind aufgewühlte Tage und Monate. Wer jetzt Farbe bekennt oder in Farbe schwelgen kann, hat es gut. Die Kunst steht mittendrin im Leben und doch auch außen vor. Sie braucht und kreiert Abstand zum Geschehen, bringt poetische Verwirrung in vermeintlichen Gewissheiten, lässt ihr Publikum innehalten und den Dingen nachspüren, mit allen Sinnen und voller Selbstreflexion. Sie eröffnet das, was einst der Kunsthistoriker Aby Warburg behauptete, einen „Denkraum“. Als leidenschaftliche Verfechterin einer gattungsübergreifenden, wie partizipativen Kunst eröffnet Rita Rohlfing mit jeder ihrer künstlerischen Arbeit uns durch aktive Teilnahme stets neue Denk- und Erfahrungsräume. Lassen Sie sich durch die Ausstellung treiben, halten Sie immer wieder inne und bleiben Sie aufmerksam – wie im Leben.

Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit!

Diana Lenz-Weber