11. März 2016

Peter Lodermeyer

I. Das Setting könnte kaum einfacher sein, der Effekt kaum komplexer. Die ortsspezifische Arbeit, die Rita Rohlfing als Entrée zu ihrer Ausstellung „Das Virtuelle im Konkreten“ im Clemens Sels Museum Neuss installiert hat, besticht durch die Schlichtheit ihres Arrangements und die durchschlagende Wirkung, die sie damit erzielt. Als eine Künstlerin, für die Räume und Raumerlebnisse zum wesentlichen Bestandteil ihrer künstlerischen Fragestellung gehören, war es für sie unerlässlich, die Eingangssituation des Museums, das Foyer mit seinem markanten Treppenhaus, in die Ausstellung mit einzubeziehen. Die Herausforderung bestand darin, die aus blockhaften kubischen Betonelementen bestehende Treppenanlage, die den Raumeindruck beim Betreten des Baus dominiert, mit einem präzisen künstlerischen Eingriff zu kommentieren. Dies war für Rita Rohlfing umso dringlicher, als die wuchtige Betonarchitektur dem Raumbegriff, der ihrem Werk zugrunde liegt, in vielerlei Hinsicht entgegengesetzt ist.

Die Architektur von Harald Deilmann – 1975 vollendet, ab Ende 2013 aufwendig saniert und Mitte 2015 wiedereröffnet – ist geprägt durch die klaren plastischen Formen der Betonelemente, durch eine rhythmische Abfolge von positiven und negativen Volumina, die den Raum gliedern und erschließen, aber auch prominent in das Raumganze eingreifen. Ein bezeichnendes Detail für Deilmanns Architekturauffassung zeigt sich darin, dass er die Unterseiten der Treppenaufgänge nicht etwa zu Schrägen geglättet, sondern die Stufen auch in der Untersicht akzentuiert hat. Ebenso bezeichnend ist die Betonung der Formen in ihrer Materialität: Deutlich sind in den Oberflächen noch die Spuren der Verschalungsbretter für den Gussbeton zu erkennen.

Im Unterschied zu dieser durch plastische Akzentuierung charakterisierten Raumauffassung interessiert sich Rita Rohlfing für das Unbestimmte, das nicht Definierte, die Verunsicherung im Raumerlebnis. Räume sind für sie nicht primär durch deren materielle Grenzen definiert, sondern wesentlich von veränderlichen Faktoren wie Licht- und Farbwirkung mitbestimmt. Farbe, Reflexion, Transparenz, Schichtung und Überlagerung sind Schlüsselwörter für ihr Raumverständnis. Ihre bevorzugten Materialien sind Acrylglas und Aluminium: leicht, transparent, reflektierend. Sichtbarkeit setzt das Unsichtbare voraus. Was sichtbar ist, verdeckt notwendigerweise etwas anderes, das dadurch wiederum unsichtbar bleibt. Jede Änderung seines Standpunkts vermittelt dem Betrachter neue Sichtweisen und Perspektiven und zwingt ihn dazu, vorgefasste Ansichten zu revidieren. Eine solch flexible Raumauffassung wird mit Rita Rohlfings Acrylglasobjekten, ihren „Spaces“, die sich mit jedem Schritt des Betrachters zu verändern scheinen, eindrucksvoll erfahrbar.

In den beiden unterschiedlichen Raumbegriffen drücken sich generationstypische Unterschiede aus. Harald Deilmann (1920–2008) erweist sich mit seiner klaren, konstruktiven Betonarchitektur als bedeutender Vertreter der Nachkriegsmoderne mit ihrem Aufbau- und Fortschrittsoptimismus. Geradlinigkeit, Klarheit, Funktionalität bestimmen Deilmanns Architektur. Mit dem Gussbeton setzte er auf ein Material, das in den 1970er-Jahren Ausweis von Modernität und Garant eines rationalen, ökonomischen und zweckgebundenen Bauens war.

Rita Rohlfing, Jahrgang 1964, gehört zu einer Generation von Künstlern, die mit ebensoviel Bewunderung wie Kritik und Skepsis auf die Prinzipien der Moderne schauen. Der Sichtbeton-Brutalismus der Nachkriegsjahrzehnte ist in einer Welt, die ganz wesentlich durch Mobilität, elektronische Medien und globale Vernetzung gekennzeichnet ist, kein Ausweis des Zeitgemäßen mehr und erst recht nicht von „Schönheit“, die Deilmann dezidiert zum Zielpunkt seines Bauens erklärte. „Bauen für die Gesellschaft von morgen“ hieß der bezeichnende Titel eines Festvortrags, den der Münsteraner Architekt am 18.12.1985 in Dortmund hielt. Interessanterweise prognostizierte er darin für die verbleibende Zeit bis zum Jahr 2000 nicht weniger als die „Vollendung der Moderne“. Nun sind bereits weitere 15 Jahre vergangen. In diesen drei Jahrzehnten haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen in einer Weise verändert, die 1985 nicht vorhersehbar war.

Rita Rohlfing begegnet der architektonischen Vorgabe im Foyer des Clemens Sels Museums Neuss mit einem Eingriff, der ebenso schlicht wie signifikant ist. Ohne den materiellen Bestand der Treppenhausarchitektur auch nur im geringsten anzutasten, verändert sie die Atmosphäre, die bauliche Logik, die räumliche Orientierung vor Ort drastisch. Der Eingriff ist immateriell, er besteht nur aus Licht. Es handelt sich um die etwa 12 x 6,50 m große Projektion eines Fotos. Kein Film, keine Diashow, keine Bewegung – ein einziges statisches Bild, das schräg in den Raum und auf die Flächen der verschachtelten Architektur fällt, genügt, um die schweren Formen zumindest partiell aufzulösen und den Raum nachhaltig in Unruhe zu versetzen. Der Projektor ist gut sichtbar in ca. 2,50 m Höhe an der Wand angebracht. Nichts wird versteckt, alles liegt offen zutage – und doch ist die Situation im Treppenhaus, nicht nur auf den ersten Blick, verwirrend und rätselhaft. Es dauert eine ganze Weile, bis man das kleinteilig aus Licht- und Schattenpartien bestehende Motiv identifiziert hat. Rita Rohlfing kontert die reale Treppenarchitektur mit der Projektion einer zweiten realen Treppenarchitektur, die aus einer anderen Zeit und einem anderen kulturellen Zusammenhang stammt. Es handelt sich um eine Fotografie der stählernen Feuertreppen an der Fassade eines im frühen 20. Jahrhundert entstandenen Gebäudes im New Yorker Stadtteil Chelsea, welche die Künstlerin dort während ihres Studienaufenthalts 1994/1995 aufnahm. Das Farbfoto hat sie für die Projektion digitalisiert und in Schwarz-Weiß umgewandelt. Das Gebäude mit seinen zahlreichen neben- und übereinander angebrachten eisernen Fluchttreppen und Gitterrosten, die ein verwirrend kompliziertes Raster aus Licht und Schatten erzeugen, ist im Schrägblick von unten nach oben aufgenommen. Horizontal in den Raum projiziert, liegt die Blickachse des Fotos um fast 90 Grad gekippt zur Blickrichtung des Betrachters, wodurch sich ein irritierendes, Schwindel erregendes Raumgefühl ergibt, zumal sich im Sehen Realarchitektur und Projektionsanteil nur mit Anstrengung auseinanderhalten lassen.

Wenn man sich im Raum bewegt, die ersten Treppenabsätze hochsteigt, verändert sich die Situation. Die angestrahlten und die von der Projektion unberührten Architekturteile treten in der Schrägsicht vom Treppenaufgang aus deutlich auseinander. Beim Hochsteigen bemerkt man im Durchblick durch das Treppenhaus vielleicht zum ersten Mal das Objekt „metallica“, das die Künstlerin ganz oben an der Wand rechts vom Treppenaufgang angebracht hat und das die architektonische Situation ebenfalls kommentiert. Aus Aluminium geschnitten, verweist das viereckige, asymmetrische Objekt, das demonstrativ auf rechte Winkel verzichtet, mit seinen Schrägen auf die Diagonale der massiven Treppenbegrenzungen aus Beton. Die glänzend polierten Ränder des Objekts korrespondieren mit den Handläufen aus Edelstahl. Mit seiner Binnenfarbe nimmt „metallica“ das Betongrau des Treppenaufgangs auf, gibt ihm aber eine wärmere, leicht ins Rosa changierende Tönung.

II. Den Entschluss, die Eingangssituation im Clemens Sels Museum Neuss mittels einer Fotoprojektion zu verändern, fasste Rita Rohlfing bereits in einer frühen Planungsphase für ihre Ausstellung. Dass sie weitere fotografische Arbeiten zeigen würde, hat sie hingegen erst viel später entschieden. Diese Entscheidung ergab sich aus der intensiven Beschäftigung mit der Gesamtarchitektur des Foyers, deren Prägnanz und Stärke eines entsprechenden künstlerischen Kommentars bedurfte. Die anfängliche Idee, an die beiden Wänden gegenüber dem Eingang große „Spaces“ aus mattiertem Acrylglas zu hängen, erwies sich als zu subtil angesichts der dunklen Decke mit ihrer prägnanten, durch massive Betonstreben eingefassten Kassettierung und der Präsenz des mittelgrauen, fein strukturierten Steinfußbodens. So wie die Künstlerin das Treppenhaus mit einer fotografischen Aufnahme einer anderen Treppensituation konterte und in seiner Wirkung entschieden veränderte, so reagierte sie auf das Interieur der Eingangshalle mit sehr speziellen Innenraumfotos, deren Motive jedoch nur schwer lesbar sind.

Vier großformatige, jeweils 200 x 125 cm messende, auf Alu-Dibond gezogene Fotos präsentiert Rita Rohlfing im Foyer des Museums. Durch Formatgleichheit und Motivähnlichkeit erscheinen die vier ungerahmten Arbeiten als zusammengehörig und ziehen so die Aufmerksamkeit im Eingangsbereich auf sich. Die Erwartungen, die wir gewöhnlich an Fotografie stellen, werden von diesen Arbeiten ausgebremst und unterlaufen. Wir sind durch tagtäglichen Umgang mit fotografischen Bildern in unterschiedlichsten privaten, beruflichen, öffentlichen und künstlerischen Kontexten darauf trainiert, diese zuallererst nach dem abgebildeten Motiv zu befragen. Bevor man auf die formalen oder kompositorischen Eigenschaften der Fotografie oder gar auf seine Materialität achtet, schaut man darauf, wer oder was dort zu sehen ist. Diesen reflexhaften, auf schnelles Erfassen der Bildinformation konditionierten Zugang zur Fotografie bedienen Rita Rohlfings Fotoarbeiten nicht. Es ist auch nach längerer und intensiver Betrachtung nur schwer zu sagen, was überhaupt auf ihnen zu sehen ist.

Obwohl es sich um Farbfotografien handelt, was man an einigen wenigen bräunlichen oder bläulichen Details sehen kann, sind die Fotos fast ganz auf Schwarz-, Weiß- und Grauwerte beschränkt. Man erkennt jeweils eine dunkle Fläche, die von zahlreichen Spuren durchsetzt ist, die manchmal zeichenhaften Charakter anzunehmen scheinen. Auf allen diesen Bildern ziehen rundliche, an den Rändern unscharf ausfransende Helligkeitsfelder die Aufmerksamkeit auf sich. Jeweils zwei bis fünf dieser Felder sind auf den Fotos zu sehen. Die vier kleineren, 100 x 62,5 cm messenden Arbeiten, die im Treppenhaus des Museums in einer Wandvitrine ausgestellt sind, weisen sogar bis zu acht oder zehn davon auf. Aus einigem Abstand betrachtet, könnte man vermuten, dass es sich bei den Fotos um astronomische Aufnahmen handelt, bei den hellen Flecken um die starke Vergrößerung von Sternen – doch diese kosmische Lesart der Fotografien wird beim Näherkommen widerlegt, weil sich die Spuren nicht in diese Deutung integrieren lassen. Aus mittlerem Abstand erhält man den Eindruck, dass es sich um Materialoberflächen handeln muss, die schräg aus unterschiedlichen Positionen aufgenommen wurden, worauf die unterschiedlichen Verläufe von scharfen zu unscharfen Bildpartien hindeuten. Selbst wenn man auf der richtigen Spur ist und die Aufnahmen korrekt als Fotografien eines dunklen, vom Gebrauch zerkratzen Fußbodens deutet, in dessen Oberfläche sich unscharf hell leuchtende, in regelmäßigen Abständen angebrachte Deckenlampen spiegeln, bleibt aufgrund der geringen Bildinformation immer ein Rest von Unsicherheit bestehen. Um näheren Aufschluss zu gewinnen, wird wohl jeder Betrachter, der sich mit diesen Bildern beschäftigt, näher an sie herantreten, in der Erwartung, aus geringerer Distanz mehr Details zu erkennen und so Klarheit über die Motive zu erlangen. Dabei macht man jedoch eine überraschende Erfahrung. Wenn man aus größerem Abstand näher kommt, nimmt man zwar immer mehr Detailschärfe wahr, und die Bilder zeigen eine zunehmend größere Informationsdichte. Doch gibt es einen Punkt, von dem an dieser Effekt plötzlich in sein Gegenteil umkippt. Sobald man diese Schwelle, etwa einen Meter vor den Bildern, überschreitet, werden die Fotografien bei weiterer Annäherung sukzessive unschärfer. Aus der Nahsicht löst sich dann jeder gegenständlich fassbare Bezug vollständig auf, die Fotografien werden zu abstrakten Flächen, die ein wenig an verpixelte Satellitenfotos denken lassen.

Was man den Bildern nicht ansieht, was aber in die Betrachtung mit einfließt, wenn man es weiß: Die Fotos sind während der Art Cologne 2015 entstanden. Sie zeigen den Teil der Messehalle, über den Hunderte von Kunstwerken transportiert wurden und Tausende von Kunstliebhabern gegangen sind, um sich diese Werke anzuschauen. Rita Rohlfing wählt als Motiv ein unverzichtbares und zugleich völlig unbeachtetes Detail der Kunstmesse: den Fußoden. Der Blick auf dieses Innenraumdetail ist jedoch so ungewöhnlich, die Reflexionen des Lichts bleiben so assoziationsträchtig, dass man, selbst wenn man seinen Ursprung kennt, weiter über das Motiv im Unsicheren bleibt.

III. Rita Rohlfing ist eine Künstlerin, die sich nicht innerhalb der Logik einer einzelnen Kunstgattung bewegt, sondern die Überschreitung gewohnter Gattungsgrenzen in ihre Kunst einbezieht. Wenn auch ihre Arbeiten mit ihrem vitalen Interesse an Farbe und Farbwirkung eine starke Verankerung im Bereich der Farbmalerei besitzen, so präsentieren sie sich mit ihrer Betonung von Material und Raumwirkung doch immer auch als dreidimensionale Objekte und besitzen als solche einen skulpturalen Bezug; im Großformat weiten sie sich sogar zu veritablen Rauminstallationen. Dass sich Rohlfings künstlerisches Repertoire nun auch in den Bereich der Fotografie erstreckt, ist einerseits zunächst überraschend, andererseits aber nur konsequent, weil sich die Themen, welche die Künstlerin beschäftigen, ebenso im Medium der Fotografie prägnant artikulieren lassen.

Bemerkenswert bleibt, dass es Architektur und Raumwirkung des Deilmann-Baus waren, welche die Künstlerin zur Präsentation von Fotoprojektion und Fotografien angeregt haben. Die acht Fotos haben trotz ihres Verzichts auf Farbigkeit unverkennbar einen Bezug zur Malerei. Das Helldunkel, die Verteilung der Helligkeitswerte, die scheinbar gestischen Spuren lassen sie wie fotografische Varianten ungegenständlicher Gemälde erscheinen. Zugleich geht es um die aus Rohlfings Werk bekannten Themen der Reflexion und Unschärfe wie in der Spiegelung des Lichts auf dem zerschlissenen Fußboden. In ihren Arbeiten reflektiert sich die Tatsache, dass wir in einer Gegenwart leben, die ungeheuer komplex und in vielen ihrer Aspekte unverständlich geworden ist.